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12. November 2003

Warum die Talent-Treffen seit elf Jahren ein Erlebnis sind

Rockiger Schmiss und russische Schwermut

Daheim auftreten kann jeder. Was aber, wenn der Amateurmusiker sein Können mal vor Publikum testen will? Dann gibt der "Talent-Treff" die Antwort, logiert im Keller des Alten Böblinger Amtsgerichts - und schreibt seit elf Jahren eine ziemlich einmalige Erfolgsgeschichte.
Gregor NeagaMittwochabend. Der Uhrzeiger rückt auf 21 Uhr, da schreitet ein Mann ans Mikro, der der Jam-Session im Schlossberg 11 seit Urgedenken seinen Stempel aufrückt. Als Moderator wie als Gitarrist ist Gregor Neaga eine Wucht. Seine Einfälle als Conférencier kommen ebenso spontan, wie er mit seiner Klampfe stets die richtige Tonart findet, sobald ein Kehlkopf nach harmonischer Begleitung dürstet. Der Mann, im Zivilberuf Unternehmensberater, der kann: egal, ob Blues, Folk, Jazz, Samba oder ein Cocktail aus alledem.

HeidiAm Mittwochabend machen Bruni & Heidi den Anfang. Mit den "Männern in Posen - und morgens in Unterhosen" des scharfzüngigen Satirikers Kurt Tucholsky haben sie die Lacher (derBruni Ladies) auf ihrer Seite.
Roland Grahner Roland greift dazu in die Tasten des Klaviers, die Stimmung steigt. Teelichter und Chianti funkeln in den Gläsern. "Liebe kostet manche Überwindung/Männer sind eine komische Erfindung."
Peter Reichert begeistert das Publikum mit einem Stück von Cat Stevens.

Peter Reichert
Joachim Bartocha Joachim Bartocha, Swing auf Gitarre
Viele kommen von weit her, um beim Talent-Treff die Bühne zu betreten. Sofern man bei einem durchgängigen Fußboden von Bühne sprechen kann. Was sie her treibt? Werner Grunert, 83-jähriger (!) Gründervater der Einrichtung, hat eine einleuchtende Antwort parat: "Leute aus Augsburg haben mir mal gesagt, wenn sie bei sich auf der Bühne versagen, haben sie anschließend für lange ein Problem. Hier nicht. Hier fahren sie einfach wieder nach Hause ..."

Gründervater Grunert als "genialer Typ"

Werner GrunertGrunert hat noch keinen Talent-Treff in all den Jahren versäumt. Sechsmal im Jahr, immer an jedem zweiten Mittwoch alle zwei Monate, ist der wiefe Senior mit dem schlohweisen Haar mit von der Partie. Als Konstante. Als gute Seele. "Genialer Typ", sagt Walter Jaiser, der Fahrradhändler aus der Stadtgrabenstraße, der mit seiner Frau Silvina oft Gast der Improvisations-Abende ist. "Notfalls auch bis um 3, halb vier." So lange nämlich wird im Keller des alten Bauwerks gejamt, wenn das Stimmungsbarometer einfach nicht vom Siedepunkt fallen will. Eine Auftrittsmöglichkeit für Nachwuchstalente - davon träumte Werner Grunert schon, als er in den 50er und 60er Jahren in den Tübinger Jazzkeller gekurvt ist. "Denn hier gab's ja nur die Stadtkapelle." Heute ist die Bühne, mit der man einst im Oberhaus begann, eine Institution.

Ein Selbstläufer. Bis zu 70, 80 Leute verirren sich hierher, Musiker wie (Stamm-)Gäste, haben Spaß, kriegen wundervoll was auf die Ohren. Wie am Mittwoch. Acht Leute sind von Gregor Neaga angekündigt. Doppelt so viele sollen's werden. Manch einer fasst sich halt erst nach Mitternacht Mut. Wie Alex, die Jugoslawin mit den blond gefärbten langen Haaren, die zur CD Liebeslieder covert. Alex
Lizzy Oder "Lizzy", die vielleicht kein Casting bei Dieter Bohlen gewinnen dürfte. Aber stimmlichen Ausdruck hat. "Zigeuuunerjunge, Zigeuuuunerjunge" - man könnte glauben, "Alexandra" sei von den Toten auferstanden.

Alles handgestrickt, alles "unplugged"

Doch die CD als Hintergrund ist die Ausnahme. Unplugged heißt die Regel. Zwei, drei Männer greifen hintereinander zur Gitarre und picken die Stahlsaiten recht behände. Dass mal ein AngieAkkord etwas holpert, eine Saite klirrt - kein Problem.Dann kommt "Angie".

Als sie Eva Cassidys Ballade von den "Fields of Gold" anstimmt, ist das PublikumRichard Fux mucksmäuschenstill. Erst nachdem die letzte Note verklungen ist, ruft einer "Klasse!" Jauchzer gehen durch den Raum. "Und das alles kriegst du hier zum Nuller", ist Stadtpressesprecher Wolfgang Pfeiffer mit seiner Frau Ellen perplex. "Autumn leaves" singt "Angie" zur Klavierbegleitung durch Richard Fux. So perfekt, als ob wir hier nicht in Böblingen wären, sondern im "Birdland", im "Blue Note" oder sonst in einem der legendären Clubs der Welt.

Dr. Bernie Burn "Dr. Bernie Burn" ist eingetroffen. Wahrscheinlich heißt er Bernhard, wird jedenfalls als alter Bekannter begrüßt. "Er ist das, was man eine Rampensau nennt", lacht der Moderator über den kleinen Mann in der roten Hose, der es faustdick hinter den Ohren hat. "Des isch dr Otto Walkes von Beeblenga", grinst Walter Jaiser.

"Angie" hat die "Route 66" angestimmt, da wird die Band auf der Bühne plötzlich Mann um Mann größer. "Get your kicks": Lothar ist auch dazugekommen. Einen Bass hat der große Lockenkopf um die 60, dass Lorne Green staunen würd'. "Komm, gib's uns", raunt einer aus dem Auditorium. Clap your hands, stamp your feet. Das Haus ist aus dem Häuschen.

Rute 66

Laliass, Gerard und Nuno Auch die zwei Mittzwanziger, die jetzt die Bühne betreten, werden entsprechend begrüßt. "Holzgerlingen/Portugal" kommt in Gestalt eines kleinen Schwarzhaarigen, an dessen Seite "Holzgerlingen/Frankreich" dunkelhäutig tritt. Der große Linke rappt im französischen Sprechgesang, während der kleine Rechte mit dem Mund dazu einen Schlagwerk-Rhythmus imitiert, dass Bobby Mc Ferrin daran seine größte Freude hätte.

"Laliass", Nuno und Gerard

Die Zeit ist fortgeschritten, aber immer noch kommen spannende Beiträge. Kein Rock mehr, dafür die russische Schwermut zweier Damen aus Georgien. Brav singen sie zur Klavierbegleitung, herzlich ist ihr Applaus.

Manana und Tamila

Manan und Tamila
Thomas Brenner

Nach den Rappern kommt der AWO-Brenner. Auch Thomas Brenner, AWO-Geschäftsführer, wird nicht von der Bühne gelassen, bevor er seiner Fingerpicking-Django-Reinhardt- und Blues-Gitarre eine Zugabe entlockt hat.

Andreas Schönfeld Andreas Schönfeld
Jörg Beirer Kann man so einen Abend noch toppen? Jörg kann's. Aus Reusten bei Entringen soll er kommen, hat Ulk, Schalk und Brutalo-Dialekt und stimmt mit dem Saal eine Persiflage "uff de schwäb'sche Eisebahna" an. "No ned hudla" übersetzt er einem Nordlicht mit "mr ko ned schnell gnuag langsam do". Und lupft die Gemütlichkeit auf den Gipfelpunkt: "Stoßed mit de Gläser a, aufs Wohl der schwäb'sche Eisebah", weil: "Hoch dr Kolba, nai dr Zenka. Morga miaß mr Wasser trenka."

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Text mit freundlicher Genehmigung von
Siegfried Dannecker
Erschienen in der Böblinger Zeitung, 15. 11. 2003

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Eine kleine Überraschung steht noch an: Ulf Sonnabend, ein regelmäßiger Teilnehmer an den Sessions ergreift das Mikro und übernimmt kurzerhand die Moderation. Er bedankt sich im Namen aller Teilnehmer und Zuschauer mit einem "Danke, Gregor..."- Lied, in das alle anwesenden begeistert einfallen. Der Dank gilt auch all denen, die sich im letzten Jahr zum Gelingen der Sessions beigetragen haben.

Ulf Sonnabend

Fotos: I. Krämer