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Abenteuer "Deutsche Botschaft in Belgrad"

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Orahovo, Donnerstag, 29. 7. 1993

3 Uhr 10 Morgens

Draußen ist es noch stockduster, das Haus still. Ich sitze frisch geduscht und angezogen in der einfachen Küche meiner Eltern, und warte, dass halb vier wird. Dann fahren wir - mein Vater und ich - los, um für meine Mutter ein Visum bei der Deutschen Botschaft in Belgrad zu besorgen, damit sie den in Deutschland lebenden Rest der Familie besuchen kann.

Das wird die erste von mehreren Fahrten werden. Es ist der reinste Wahnsinn, mit welchem Aufwand es verbunden ist, wenn sie uns in Deutschland besuchen will. Neben einer "Garantieerklärung" von uns braucht sie etliche weitere Dokumente, die sie alle schon beisammen hat.

Der Donnerstag gleicht einem Alptraum, der Wert wäre, von Stephen King in einem seiner Romane beschrieben zu werden.

Wir fahren mir Vatis altersschwachen, ratternden und rüttelnden Trabbi nach Topolya, eine Kleinstadt etwa 12 km von unserem Dorf entfernt. Der Bahnhof ist stockdunkel - aber wir finden eine offene Tür und tasten uns zum schwach erleuchteten Schalter durch. Dort sitzt tatsächlich ein verschlafener Schalterbeamter, der und mürrisch die beiden Fahrkarten verkauft. Durch die Inflation bedingt sind die Preise sehr niedrig, wir zahlen für die beiden Rückfahrkarten umgerechnet 1.- DM. Und Belgrad liegt immerhin etwa 260 km weit entfernt.

Als wir im Zug sitzen, beschleicht mich eine unangenehme Vorahnung dessen, was mich heute alles erwartet. Die Sitze sind mit Velours bezogen und offensichtlich noch nicht sehr alt. Aber alles starrt nur so vor Dreck. In den Ecken liegt eine centimeterdicke Schicht dieser undefinierbaren Substanz, die sich in Monaten oder vielleicht auch Jahren angesammelt hat. Die spärliche Beleuchtung stammt von den beiden übrig gebliebenen nackten Neonröhren, die durch ein ungleichmäßiges Flackern versuchen, den Großraumwagen zu beleuchten. Die übrigen 8 sind dunkel oder fehlen ganz. Nach der Dunkelheit, wenn das Licht kurz wieder angeht, flitzen Dutzende schwarze Tierchen auf dem Fußboden blitzschnell in irgendwelche Ritzen, verschwinden, um in der nächsten dunkeln Phase hervorkriechen zu können. Es sind Kakerlaken. Meine Phantasie schlägt Purzelbäume - wer weiß, ob die Viecher nicht auch auf mir herum krabbeln... Brrrrrrrr

Die Fahrt dauert und dauert, es ist ein Bummelzug, der an jedem Strohhaufen hält, wie man es hier sagt. Allmählich füllt er sich mit Reisenden. Ich beobachte sie fasziniert - so viele verschiedene Menschen! Die meisten ungewaschen, ungekämmt nach Schweiß riechend. Hin und wieder eine Frau, die aufgedonnert, geschminkt und so stark nach beißendem Parfüm riecht, dass mir die Augen zu tränen beginnen. Wer noch einen Sitzplatz ergattern kann, entspannt sich und schläft nach wenigen Minuten. Wer keinen hat, der schläft auch, mit einer Hand sich irgendwo festhaltend.

Kurz vor Belgrad entschließe ich mich, auf die Toilette zu gehen. Es wird zu einem weiteren Abenteuer. Bis ich mich durch die 1 1/2 Wagen durchkämpfe, dauert es eine Weile. Endlich, da ist die Toilette! Als ich die Tür öffne, weiche ich entsetzt zurück. Es gibt keine Toilette, nur ein Loch im Boden, durch den ich die rasend schnell vorbeihuschenden Bodenschwellen erkennen kann. Keine Spülvorrichtung, dafür aber deutliche Spuren von all den Reisenden, die vor mir diesen gräßlichen Ort aufgesucht haben... Über dem Waschbecken kein Wasserhahn. Da mich meine schwache Blase jedoch zum Handeln zwingt, hocke ich mich widerwillig hin und bete, dass in den nächsten Minuten keine Kurven oder Weichen kommen.

Dann wird es schlagartig pechschwarz um mich herum. Eine Beleuchtung hat der Raum nicht. Siedend heiß fällt mir der Tunnel kurz vor Belgrad ein! Das Licht bleibt aus, rata-tata, rata-tata. Mühsam versuche ich die Balance zu halten, allmählich steigt Panik in mir auf, ich taste mit den Händen vorsichtig herum und finde etwas zum festhalten. Stehe vorsichtig auf, trau mich aber nicht, den Fuß von der Stelle zu bewegen. Wie lange dauert denn dieser verdammter Tunnel noch??? Endlich wird es etwas heller und beinahe fluchtartig verlasse ich diesen stinkenden Ort und kämpfe mich zurück.

Endlich sind wir da. Belgrad. Die Hauptstadt Jugoslawiens. Der Bahnhof ist genauso verdreckt, wie der Zug und der Rest der Stadt. Es gibt zwar an einigen Stellen Mülleimer, aber die meisten quellen über. Überall liegen leere Getränkeverpackungen, zerknülltes Zeitungspapier, Zigarettenschachteln herum. Auch weggeworfene Zigarettenkippen, Kaugummis, Kondome und ähnliche Dinge. Alle paar Schritte liegt eine kleine schaumige Pfütze, die eindeutig auf die Unart des Nase-hochziehens-und-anschließend-Ausspuckens hinweist. Ich ekel mich und passe auf, wo ich hintrete. Mit der Zeit wird es leichter, später kann ich diesen Pfützen auch ohne hin zu sehen, ausweichen.

Beherzt machen wir uns auf den Weg, fragen uns zur Deutschen Botschaft durch. Was mich dort erwartet, übertrifft meine schlimmsten Befürchtungen. Eine riesige Menschenmenge steht bereits an. Wir fragen uns durch, wo man die Antragsformulare bekommt. Zum Glück ist die Schlange hier nicht ganz so lang.

Einmal gehe ich an den Anfang der anderen Schlange. Dort stehen die Menschen zwischen Absperrungen eingepfercht. Ich schätze, es sind etwa 500 - 600 Wartende. Manche zwischen den Absperrungen, viele dahinter oder auch außerhalb. Die, die innerhalb der Absperrung stehen, (etwa 10 - 12 auf einem qm) stehen so eng, dass ein Bewegen der Arme nicht möglich ist, selbst Bücken oder sich drehen ist nicht drin. Einige sehen aus, als wären sie einer Ohnmacht nahe. Aus der Wust von Körpern streckt sich eine Hand nach vorne "bitte, etwas zu trinken!!" an niemanden gerichtet, nur so. Niemand achtet darauf. Die meisten sind schon am Abend vorher angereist und stehen seither hier. Man sagt, man hält es nur dann aus, wenn man fastet, vorher, und während der ganzen Zeit weder Nahrung noch Flüssigkeit zu sich nimmt. Denn sonst kommt irgendwann der Zeitpunkt, an dem das Verzehrte seinen natürlichen Weg sucht und den Körper verlassen will. Dann gibt es zwei Möglichkeiten: Die erste und bessere ist es, sein Geschäft an Ort und Stelle zu verrichten. Im stehen, in die Hose hinein - was auch, so unglaublich es klingen mag, wirklich machen... Denn die zweite Möglichkeit - das Verlassen des seit 12 - 16 Stunden umkämpften Platzes bedeutet, dass alles umsonst war.

Unser Anstehen dauert diesmal zum Glück nur eineinhalb Stunden und wir haben das Antragsformular. Einige Gewitzte schlagen auch daraus Kapital: Sie verkaufen Antragsformulare für 20.- DM. Am Schalter sind sie kostenlos. Die meisten warten lieber und kaufen nicht. Es gibt aber auch welche, die fallen darauf herein und kaufen das Formular. Sie fahren - oft hunderte Kilometer weit - nach Hause, füllen das Formular aus, kommen wieder um es abzugeben, stehen stundenlang in der Schlange, kämpfen sich durch - um dann entsetzt festzustellen, dass diese Formulare von der Deutschen Botschaft nicht anerkannt werden... Diese Enttäuschung kann man sich nicht vorstellen.

Unser Zug geht Mittags um halb zwölf zurück, wenn wir den verpassen, müssen wir bis 19 Uhr warten, rennen also zum Bahnhof herunter und schaffen den Zug noch rechtzeitig. Abends spät sind wir endlich daheim, erschöpft und ratlos.

Große Ratssitzung zu Hause. Um den Antrag abzugeben, muss Mutti persönlich hin. Sie ist aber seit Jahren Herzkrank, dieses Anstehen überlebt sie mit ihrer schwer angegriffenen Gesundheit nicht. Wir beschließen, dass Vati am nächsten Tag erneut hinführt, um eine Wartenummer oder eine besondere Erlaubnis zu bekommen.

Leider ohne Erfolg. Er steht den ganzen Vormittag umsonst an. Da Freitag ist, werden die Absperrungen um 12 Uhr aufgehoben und die Wartenden, die unzufrieden und wütend werden, durch die Polizei mit Schlagstöcken verjagt und zerstreut. Für den Mittagszug ist es zu spät, irgendwann spät in der Nacht kommt er niedergeschlagen nach Hause. Müssen wir es aufgeben, kann Mutti ihre Enkelkinder in Deutschland nicht besuchen?


Novi Sad, 3. August 1993

22 Uhr 20

Um uns herum sind Menschen, viele Menschen. Sie reden serbisch, die Landessprache, ich verstehe nicht alles, immer nur Fragmente, da meine Muttersprache Ungarisch ist und ich als junges Mädchen nach Deutschland gegangen bin, als Gastarbeiterkind. Daher fehlt mir auch die Übung.

Wir sind glücklich, denn wir haben einen Sitzplatz im Zug ergattern können, auf dem jetzt Mutti sitzt.

Der Entschluss wurde um 18 Uhr gefasst, dass wir einen letzten Versuch machen, für Mutti das begehrte Visum zu bekommen. Unser Proviant besteht aus 2 Wolldecken, sauren Bonbons, einem Klapphocker, etwas Wasser, und Muttis Herztabletten natürlich. Mein Tagebuch begleitet mich bei dieser Fahrt, so dass ich zwischendurch das Erlebte zeitnah aufschreiben kann.

Belgrad, 4. August 1993

2 Uhr Morgens

Ankunft in Belgrad mit anderthalb Stunden Verspätung. Als wir aussteigen wollen, müssen wir über Schlafende steigen, die einfach auf dem Boden oder auf ihren Gepäckstücken liegen und schlafen, denn es ist ein Zug, der noch weiterfährt, bis ganz weit nach Süden.

Am Bahnhof nehmen wir ein Taxi, der uns für 10.- DM zur etwa 1 1/2 km entfernte Deutschen Botschaft hochfährt. Die Inflation hat hier merkwürdigerweise nicht so markante Spuren hinterlassen, wie bei den Bahnpreisen und bei anderen Preisen.

Hier stehen, sitzen oder liegen bereits etwa 200 - 300 Menschen. Sie liegen auf Decken, Pappkartons, oder auf dem blanken Boden. Einige haben auch einen Klappstuhl mitgebracht. Als wir aus dem Taxi steigen, werden wir von sog. "Schleppern" umringt. Sie versprechen uns, für bare 150.- DM ganz vorne einen Platz zu beschaffen. Wir sind skeptisch, hier laufen zu viele Abzocker herum, wir trauen ihnen nicht, sondern stellen uns in die Reihe und machen es uns etwas gemütlich.

Die Zeit vergeht langsam, wir lernen 4 Frauen kennen, die ebenfalls Ungarisch sprechen. Sie sind sehr nett, wir wollen versuchen, zusammen zu bleiben.

Immer mehr Menschen kommen an. Einige sind bereit, für den Platz vorne zu bezahlen. Sie werden von den Schleppern ganz nach vorn geführt und in die Reihe gestellt, anschließend verschwinden sie schnell. In der bestehenden Reihe fängt Unruhe an, die "Hereingemogelten" werden aus der ersten Reihe "herausgehackt", nun sind sie 150 DM ärmer, und müssen sich trotzdem irgendwo hinten anstellen. So geht das hier. Die Leute unterhalten sich, es werden Schauergeschichten erzählt, manche sind das vierte oder fünfte mal hier...

Um Viertel vor 3 Morgens

geht wie auf ein geheimes Zeichen ein Raunen und ein plötzlicher Ruck durch die Menschenmenge, es erinnert mich an ein Wespennest, in dem ich als Kind einmal mit einem Stock herumfuchtelte. Wie auf ein Zeichen springen alle auf und hechten in Richtung Tür der Botschaft. Innerhalb weniger Sekunden bildet sich eine geschlossene Menschenwand von etwa 30 Metern Länge und 2 Meter Breite. Auf einem qm stehen bestimmt mindestens 10 Menschen, wenn nicht mehr. Ich sammele schnell unsere Sachen auf, auch die unserer neuen Bekannten. Mit einer Schnur binde ich alles zusammen und an einen kleinen Baum, der etwa 2 Meter von der Absperrung entfernt am Straßenrand steht. So sind die Sachen einigermaßen vor Diebstahl sicher, so lange wir ein Auge drauf werfen, und wir brauchen sie nicht fest zu halten.

Ganz vorne beginnen laute Wortgefechte. Einige Schlepper versuchen, die aufgebrachte Menge zu beruhigen und zur Vernunft zu bringen. Sie versuchen, die Leute zu überreden, sich wieder hinzusetzen. Was sie erreichen wollen ist klar: ihre Geschäfte weiter machen zu können... Aber vorne macht jemand sehr energisch und lautstark Krach, sie ist nicht mehr bereit, auch nur einen vor sich reinzulassen.

Alle paar Minuten gehe ich zu Mutti rüber. Sie hat beim Aufspringen der Menge einen Platz ergattern können, der innerhalb der Absperrung sein wird. Unsere neuen Bekannte haben es schlechter erwischt - sie stehen etwa 1 Meter weiter hinten.

4 Uhr Morgens

Ich bin in eine dunklen Seitenstraße gegangen und habe gepinkelt. Das muss bis heute Abend reichen.

Vor ein paar Minuten bekamen wir eine Kostprobe davon, wo wir hier sind. Ein Auto hält, 2 Typen steigen aus. Ein dritter kommt von irgendwo dazu. Ein Wort gibt das andere, eine Ohrfeige klatscht, eine weitere und eine dritte folgt. Stimmengewirr, Geschrei. Plötzlich weichen alle Neugierigen zurück - einer von denen aus dem Auto zieht eine Waffe aus der Tasche. Das Ding sieht so verdammt echt aus, als es im Schein der Laterne aufblitzt. Zum Glück wird es nicht benutzt, noch einige Drohgebärden, und sie springen in das Auto und brausen mit quietschenden Reifen davon. Mir zittern die Knie, Mutti ist im Schein der Laterne schneeweiß im Gesicht.

4 Uhr 30 Morgens

Die Minuten dehnen sich zu unendlich langen Zeiträumen... Was tue ich hier eigentlich, frage ich mich? Warum liege ich nicht in meinem warmen Bett, und warum kommt nicht endlich jemand, der mich rüttelt und sagt, komm, wach auf, es war nur ein Alptraum!!! Die Realität wird unwirklich, die durchwachte Nacht macht mich müde und Zeit und Ort werden durchlässig. Ich schau mich um, ich sitze bei den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne auf einem Klapphocker auf der Bircaninova Ulica in Belgrad, umringt von hunderten von Menschen.

Mutti steht seit nahezu 2 Stunden in der Schlange. Vorhin hat sie mir ihre Handtasche gegeben, sie wurde ihr zu schwer. Sie hält sich tapfer. Mutti, die niemals schwitzt, auch im Hochsommer nicht, hat auf dem ganzen Gesicht feine Schweißperlen.

Immer noch 3 1/2 Stunden, bis die Botschaft geöffnet wird.

5 Uhr Morgens

An der Lage hat sich kaum etwas geändert. Mutti ist eingekeilt, habe ihr vorhin ein nasses Taschentuch reingegeben. Csilla, eine unserer neuen Bekannten, wollte ihre Zigaretten haben, ich hab sie ihr gegeben. Aber rauchen kann sie nicht, das wäre bei dieser Enge lebensgefährlich, also schmachtet sie weiter. Vielen geht es ähnlich.

Weiter vorn in der Schlange ist ein Tumult entstanden. Ein Schlepper versuchte wieder, jemanden in die lebende Mauer hinein zu schmuggeln. Diesmal ohne Erfolg. Ich glaube, heute werden sie kein gutes Geschäft machen.

Die nun folgenden 12 Stunden sind die Hölle. Meine Erinnerungen sind manchmal bruchstückhaft, manchmal so lebhaft, dass ich Bilder noch Jahre später sehe. Auch die Empfindungen bleiben mir lange in Erinnerung. Eine Zusammenfassung des Tages schreibe ich später, als ich aus der Hölle entkomme...


Mutti hält bis

kurz vor 6 Uhr Morgens

durch. Doch sie wird immer blasser, schwitzt und bekommt ganz blaue Lippen. Ich bot ihr früher auch schon mehrmals an, die Plätze zu tauschen. Nun sieht sie so krank aus, dass ich mich nicht länger abwimmeln lasse und darauf bestehe, ihren Platz in der Menschenmauer einzunehmen.

Ich spreche ein Machtwort und holte sie da heraus.

Was sich natürlich viel einfacher anhört, als es in Wirklichkeit ist. Das Problem ist, dass etwa drei Leute zwischen ihr und der Absperrung stehen, und sie sich kaum Zentimeterweise bewegen kann. Also bitten wir diese lebende Mauer um sie herum, noch etwas fester zusammen zu rücken um sie durch zu lassen. Endlich wird sie befreit und ich quetsche mich gleichzeitig unter der Absperrung an ihre Stelle. Leute fangen zu murren an, ich sei zu dick, so gibt es noch weniger Platz. Die Lücke, die Mutti in der Menge hinterläßt, füllt sich augenblicklich wieder, so dass ich mir den Platz erneut schaffen muss. Zum Glück gibt es niemanden, der sich wegen des Tauschs aufregt, das wäre fürchterlich.

An die nächsten zwei Stunden erinnere ich mich nur wie durch ein Nebel. Bereits 20 - 30 Sekunden nachdem ich meinen Platz einnehme, habe ich das Gefühl, als wäre ich unter eine Straßenwalze geraten. Von allen Seiten wird ein so großer Druck auf meinen Körper ausgeübt, dass ich nicht glaube, es länger als 5 Minuten aushalten zu können. Arme Mutti, sie hat diesem Druck über drei Stunden Stand gehalten!

Meine Arme halte ich vor dem Körper angewinkelt, als würde ich boxen wollen - oder beten. Die Hände schließe ich zu Fäusten und spreize die Daumen ab. Wenn der Druck anfängt, mir unerträglich zu werden, bohre ich meine Daumen in die Rücken der beiden vor mir stehenden. So verschaffe ich mir (bilde ich mir zumindest ein...) einige Millimeter Platz, um atmen zu können. An tiefes Durchatmen ist nicht zu denken, geschweige denn, die Arme in eine andere Position zu bringen.

Es gibt Leute, die haben es gemacht. Sie haben einen Arm nach oben gestreckt, sei es, um an einer Zigarette zu ziehen, sei es, um aus einer angebotenen Flasche zu trinken. Sie hatten aber auf einmal das Problem, den Arm wieder nach unten zu holen, denn die Lücke, wo der Arm vorher war, schloß sich augenblicklich, und es gab kaum eine Möglichkeit, diesen in der nächsten Zeit in eine bequemere Position zu bringen, also blieb es oben, auf der Schulter oder dem Kopf eines anderen...

Nach 1-2 Minuten in dieser Enge wird das Gefühl der Hitze unerträglich. Die Haut hat keinerlei Luftzufuhr, ich fange an zu schwitzen, innerhalb weniger Minuten bin ich von oben bis unten nass geschwitzt. In der rechten Hand halte ich ein feuchtes Stofftaschentuch. Benutzen kann ich es nicht. In der linken Brusttasche meiner Weste steckt noch die Rückfahrkarte für den Zug, und in Muttis Pass eingeschlagen das gelbe Antragsformular.

Nach 15 Minuten in dieser menschlichen Pressmaschine sind meine Klamotten klitschnass. Da ich mein Taschentuch nicht benutzen kann, um mir den Schweiß vom Gesicht zu wischen, tropft der Schweiß frei herunter. Wenn es mich arg stört, verlagere ich mein Gesicht um etwa 2 cm nach vorne links und berühre das - ebenfalls klitschnasse - Hemd meines Vordermannes. (es ist hellblau mit dünnen weißen Streifen).

Wenn ich mein Gesicht nach rechts drehe, habe ich genau in der richtigen Höhe ein unordentlich zusammen gebundenen Pferdeschwanz meiner Vorderfrau mitten im Gesicht. Die junge Frau wurde, kurz nach dem ich Mutti abgelöst habe, von Schleppern reingelotst. Sie hat Glück, irgendwie hat niemand die Kraft, sich aufzuregen.

Im Laufe der nächsten halben Stunde quetschen sich auf diese Art und Weise weitere 30 - 40 neue Leute unter der Absperrung durch - allein auf dem Stück, das in meinem Blickfeld ist, und das entspricht nur einer Strecke von etwa 2 Metern.

Links hinter mir steht ein kleiner, schrumpeliger Man, so um die 60. Er macht einen sehr kranken Eindruck. Er ist ein ganzes Stück kleiner als ich. Seine Blicke werden mit der Zeit immer gequälter.

Rechts hinter mir steht ein junger Mann, dem das nicht viel auszumachen scheint. Ich selbst habe die Haare hochgesteckt, und bin mir überdeutlich bewusst, dass ich damit den Leuten hinter mir im Gesicht herumwedele, wenn ich den Kopf drehe.

Als ich einmal nach unten schaue, stelle ich mit Schrecken fest, dass das zuvor hell gelbe Formular nun eine dunkel gelbe Farbe aufweist. In einem selten günstigen Augenblick hebe ich meine rechte Hand so weit hoch, dass ich den Pass erreichen kann. Ich hebe es in der Tasche ein wenig an und öffne es leicht an der Stelle, wo das Formular steckt. Der Rand des Passes und des Formulars sind etwa 1 cm breit nass. Da ich jedoch beide auf keinen Fall in der Hand halten will, behalte ich sie da, wo sie sind, nass oder nicht, jetzt ist es eh egal.

Die Sekunden scheinen wie Minuten, die Minuten wie Stunden. Mutti füttert mich einmal mit einer hauchdünnen Zitronenscheibe. Sie hat sich ein wenig erholt und hat nicht mehr so blaue Lippen. So vergeht eine weitere halbe Stunde.

Vorne in der Schlange kippt eine junge Frau um. Sie wird aus der Presse geholt und auf den Boden gelegt, jemand leistet erste Hilfe, hebt ihre Beine an. Als sie wieder zu sich kommt, ist ihr Platz verloren, weinend gibt sie auf und geht mit zuckenden Schultern langsam die Straße herunter.

Endlich, 8 Uhr Morgens

Die Botschafts - Angehörigen kommen nach und nach an. Die meisten, die draußen arbeiten, sind Serben, sie werden "Aufsicht" genannt. Sie rufen die Menge in der Landessprache auf, so weit nach hinten zu rücken, dass das große Tor, das etwa 1 Meter hinter mir liegt, frei wird. Murrend zwar, aber die Menschen rücken ganz langsam nach hinten. Aber nicht schnell genug für die Aufseher. Einer von ihnen steigt auf die Absperrung hoch, und zwar an einer Stelle, an der 2/3 der Absperrung Richtung Eingang, und 1/3 der Absperrung nach hinten, Richtung Tor bildet. Auf der Eisenstange stehend hebt er einen Arm waagerecht hoch und brüllt in die Menge, dass alle, die links von ihm stehen, 10 Schritte nach hinten gehen sollen, also wieder weg von der Tür.

Mir schwant Übles, ich sehe all unsere Bemühungen davon flattern. Adé Visum, denn wer außerhalb der ersten Absperrung ist, wird an diesem Tag nicht drankommen, das weiß ich mit Sicherheit.

Das darf nicht wahr sein, ich muss um jeden Preis versuchen, in der ersten Absperrung zu bleiben. In der Zwischenzeit setzt sich die Masse träge in Bewegung, ich werde unweigerlich mitgerissen. Stück für Stück arbeite ich mich bis zur Wandseite durch. Finde Halt an einem etwa 20 tiefen Mauervorsprung, ein Pfosten, oder irgend etwas Ähnliches. Die Zurückweichenden wollen mich mitziehen, jeder will die vorherige Reihenfolge aufrecht erhalten. Ich werde hart gegen den Mauervorsprung gepresst. Der Aufseher kommandiert weiter, er wiederholt seine Aufforderungen mehrmals in immer schärfer werdendem Tonfall.

Er sieht mich an. Der letzte Mut verläßt mich, die Kraft weicht aus den Knien, ich verdrehe die Augen, höre leise Glöckchen in den Ohren klingeln. Langsam gleite ich an der Mauer gelehnt nach unten. Mein Kopf fällt zur Seite, das Herz rast, der Kopf dröhnt, die Knie geben nach. Kurz bevor ich die Kontrolle verliere, kehrt die Welt schlagartig zurück, der Kopf wird klar, die kleine Kreislaufschwäche ist vorüber.

Ein Mann bleibt bei mir stehen, bemüht sich um mich - kein Mensch kümmert sich um uns, wir bleiben einfach, wo wir sind. Viele viele andere ziehen vorbei, wir stehen immer noch an der Wand, seit 2 Minuten spiele ich die Rolle der fast - ohnmächtigen und habe allmählich das Gefühl, an Glaubwürdigkeit zu verlieren. Zu meinem größten Erstaunen läßt man mich in Ruhe.

Alle, die aus der Absperrung raus sollten, sind an uns vorbei gezogen.

Hinter uns wird die Kette eingehängt. Ich bin letzte, aber innerhalb der ersten Absperrung. Hurra!!!

Um nicht als Schauspielerin entlarvt zu werden, spiele ich meine Rolle noch ein paar Minuten. Eine Frau kommt von hinten, reicht mir ihre offene Flasche, ich bespritze mein Gesicht mit dem Wasser, es tut unendlich gut. Allmählich traue ich mich, etwas gesünder auszusehen.

Viele Menschen, die aus der Absperrung raus mußten, sind nicht nach hinten gerückt, sondern haben sich von außen neben diese gestellt. Nun müssen sie auch von der Absperrung weichen. Einige Gewitzte springen blitzschnell unter der Absperrung durch, die Aufseher sehen es nicht immer. Alle anderen müssen auf Kommando immer weiter nach hinten rücken, so lange, bis das große, etwa 4 Meter breite Tor hinter mir völlig frei ist.

Unsere ungarischen Bekannten wurden etwa 10 - 12 Meter zurückgeworfen.

Nun kommen gleichzeitig mehrere Aufseher mit neuen Absperrungen und stellen diese so auf, dass die nunmehr zweite Schlange eingesperrt wird. Da die Absperrungen vorne und hinten durch eine Kette zusammen gehalten werden, werden auch sie wieder eng zusammengepfercht.

8 Uhr 15 Morgens

Die "Umschichtung" ist erfolgt. Die Botschaft beginnt mit der Arbeit, wir rücken langsam vor. Der Vormittag ist lang, die Minuten vergehen langsam.

Um 11 Uhr

bin ich nur noch 2 Meter vom Eingang entfernt. Wir tauschen die Plätze mit Mutti, endlich kann ich etwas aufatmen. 5 Stunden habe ich durchgehalten.

Unsere neuen Bekannten haben die Hoffnung aufgegeben, sie können nicht mehr. Da, wo sie standen, wären sie heute nicht mehr dran gekommen. Es tut mir so leid für sie.

11 Uhr 30

Ich stehe immer in der Nähe der Absperrung, für den Fall, dass Mutti etwas braucht oder irgend ein Problem auftaucht. Sie spricht weder Serbisch, noch besonders gut Deutsch. Alle von außen an der Absperrung stehenden werden immer wieder von den Aufsehern verjagt, wir sollen auf die andere Straßenseite gehen oder ganz verschwinden. Doch kaum ist er weg, sind wir alle wieder da. Weitere 2 Stunden dauert es noch, bis Mutti endlich das Gebäude betreten kann. Gott sei Dank!

14 Uhr 45

verläßt Mutti das Botschaftsgebäude wieder. Sie kommt ohne ihren Pass heraus, das bedeutet, dass sie ihren Antrag zumindest prüfen werden. Viele der Antragsteller kommen mit dem Pass in der Hand heraus, weil sie irgend etwas falsch gemacht haben. Entweder fehlt ein Dokument oder das Formular ist falsch, oder auch falsch ausgefüllt... Für sie fängt die Hölle an einem anderen Tag wieder von vorne an.

Am Montag nach dieser abenteuerlichen Fahrt

mit Mutti fahre ich noch mal nach Belgrad und hole das heiß ersehnte Visum ab. Gebe den Pass bei einem "Bambi" Reisebüro ab, um auch das Visum für Österreich zu beantragen. Zum Glück gibt es keine weiteren Probleme, so kann Vati wiederum 3 Tage später den Pass mit dem beiden Stempeln abholen.